Stammeszeichen: identitätsstiftend, schutzgebend, schön

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Im Norden Ghanas tragen viele Menschen Stammeszeichen in Form von Narben im Gesicht. Die Wundmale stiften Identität, geben spirituellen Schutz und gelten als schön. Dass sie seit 1989 per Dekret verboten sind, interessiert kaum jemanden.

Der erste Nordghanaer, den wir kennenlernten, war Ernest. Wir trafen ihn vergangenen Dezember in seinem kleinen Heimatdörfchen Tongo. Ernest hat eine fünf Zentimeter lange Narbe auf der linken Wange und ich dachte spontan: „Oh, der Arme, verunglückte wohl irgendwann einmal unglücklich.“ Zu Ernest gestellten sich zwei Freunde – beide mit Backen-Wundmal. Ich wusste nicht, ob es sich gehört oder nicht, und habe einfach gefragt: „What’s this?“ Stolz antwortete Ernest: „This is a mark.“ – Ein Stammeszeichen!

Die meisten Nordghanaer tragen Stammeszeichen

Vor allem im Norden Ghanas sind Stammeszeichen weit verbreitet, unter anderem in der Upper East Region, deren Bewohner dem Volk der Frafra angehören. Wir hielten uns längere Zeit in Upper East auf und fanden es erstaunlich schnell normal, dass die Menschen Narben im Gesicht haben: mal eine, mal drei, mal eine ganze Wundmal-Kreation. Bereits im Alter von drei bis vier Lebenstagen werden den Neugeborenen die Zeichen in die Wangen geschnitten. Das Ganze geschieht im Rahmen der Outdooring-Zeremonie, einem Ritual, bei dem die Babys ihren Namen erhalten und erstmals die äußere Welt erleben.

Stammeszeichen sind identitätsstiftend

Bei den Frafra stiften die Stammeszeichen vor allem Identität. Länge, Position und Anzahl der Narben zeigen, aus welchem Dorf jemand kommt und zu welcher Familie er gehört. Natürlich funktioniert das. Als wir am Ende unserer Reise in einem Strandlokal im Süden Ghanas von einer Frau mit Wundmal auf der linken Wange bedient wurden, dachte ich spontan: „Ah, wie schön, sie ist eine Frafra und stammt aus einem Dorf nahe Bolgatanga.“

Stammeszeichen bieten spirituellen Schutz

Neben Identität geben die Stammeszeichen auch spirituellen Schutz. Die meisten Frafra sind Anhänger des Ahnenkults und des Animismus. Sie glauben an eine Vielzahl von Geistern, die ihren Wohnsitz in Menschen, Tieren, Pflanzen, Blitzen, Felsen, Flüssen, einfach in allen natürlichen Dingen haben. Damit die Geister und Ahnen die Neugeborenen nicht zu sich holen, sondern in der Welt der Lebenden belassen, werden die Babys mit einem Schnitt ins Gesicht unperfekt gemacht. Das Mal soll dann ein Leben lang vor bösen Mächten und Dämonen schützen.

Stammeszeichen sind schön

Wie in anderen Kulturen Tattoos und Piercings, gelten bei den Frafra die Narben darüber hinaus als attraktiv. Sehr aufwändige Verzierungen werden allerdings nicht drei oder vier Tage nach der Geburt ins Gesicht geschnitten, sondern im Teenageralter. Uns hat Adugpotas Gesicht ganz besonders beeindruckt. Sie ist eine Korbflechterin und trägt ein wahres Narben-Kunstwerk auf Backen und Stirn. Ich konnte nicht anders und habe meine Faszination zum Ausdruck gebracht. Adugpota zeigte sich erfreut und nachdenklich zugleich. Heute werden nämlich kaum noch solche üppigen Wundmal-Muster erschaffen, weil in der Vergangenheit beim Einschneiden immer wieder Menschen verblutet sind.

Stammeszeichen verstoßen gegen das Gesetz

Überhaupt sind die Stammeszeichen in Ghana illegal. Präsident Jerry Rawling erließ 1989 ein Dekret, das Genitalverstümmelung, Genitalbeschneidung und andere gesundheitsschädliche traditionelle Praktiken verbietet. Viele Ghanaer kennen das Dekret nicht oder es ist ihnen egal. Wer Stammeszeichen wichtig, unabdingbar und/oder schön findet, lässt sie seinen Kindern kurz nach der Geburt in die Wangen schneiden. Gesetzesübertretungen bleiben in der Regel unbestraft. Und wenn doch nicht? So what!

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